Linksverkehr im Kopf

Als ich als Jugendliche zum ersten Mal nach England fuhr, wurde ich von vielen Seiten gewarnt, den Linksverkehr nicht zu unterschätzen. Ich dachte mir nichts groß dabei. Ich konnte mir vorstellen, dass es beim Führen eines Wagens eine große Umstellung wäre und hatte dabei vor allem den Vorgang des Rechtsabbiegens vor Augen, dessen deutsches Pendant mir schon auf dem Fahrrad äußerst kompliziert erschien. DriveLeftIRL_cc-by-sa-3_Thjurexoell

Meine Mutter lieferte ein wertvolles weiteres Detail. „Denk daran auch, wenn du über die Straße gehst.“ Mir kam das überflüssig vor. Man schaut doch ohnehin in beide Richtungen. Wie wichtig dieser Hinweis war, wurde mir erst klar, als ich beinahe angefahren worden wäre, weil ich schon mal einen Schritt auf die Straße machte, während ich in der völlig falschen Richtung nach einem Auto ausschau hielt. Manche Dinge versteht man erst richtig, wenn man sie erlebt hat und versteht, wie sie zu Stande kommen.

Mit der Nachfrage, warum das so betonenswert sei (anstatt anzunehmen, alle hielten mich für unfähig, eine Straße zu überqueren) hätte ich schnell herausfinden können, dass man die Gefahr auch als Fußgängerin unterschätzen kann und wie diese entsteht. Mit allem, was ich wusste, hätte ich darauf kommen können, ohne es unfreiwillig selbst auszutesten.

Es gibt jedoch etwas, wovor ich nicht gewarnt wurde. Etwas, das ich mir aus dem Hinweis auf Linksverkehr nie und nimmer hätte ableiten können. Denn auch die Rolltreppen haben in England Linksverkehr. Zunächst zweifelte ich an mir selbst, als ich zum wiederholten Male auf eine Rolltreppe lief, deren Stufen mir entgegen kamen. Dann wurde mir klar, dass ich aus Deutschland gewohnt bin, dass Rolltreppen zumeist anders herum angeordnet sind.* Ich war mein Leben lang einem System gefolgt von dem ich gar nicht wusste, dass es existiert. Und ich wäre auch niemals darauf gekommen zu fragen, ob Rolltreppen nach einem bestimmten System angeordnet sind. Das spielt doch in meiner Welt keine Rolle. Vor allem aber, wäre ich nicht darauf gekommen, aus der Information „in England ist Linksverkehr“ abzuleiten, dass dann wohl auch die Rolltreppen anders angeordnet sind. Ich hätte es wohl nie erfahren, wenn ich nicht die Möglichkeit gehabt hätte, die andere Situation an eigener Haut auszuprobieren.

zwei Rolltreppen von oben.
Welche fährt nach oben, welche fährt nach unten? Hängt davon ab, wo sie stehen.

Leider gibt es diese Möglichkeit in Diskriminierungssituationen eher selten. Und so schaue ich seither auf mein linksverkehr-naives Ich vor der Englandreise mit einem ähnlichen Blick, wie auf einen Mann, der sich beim besten Willen nicht erklären kann, warum es immer noch Frauen gibt, die finden, sie wären nicht gleichberechtigt. Warum gehen die nicht über die Straße? Ist doch alles frei! Mitnichten! Das gefährliche Auto kommt nur aus der anderen Richtung, als du es erwartest.

Seither frage ich mich also, wie oft Menschen Dinge nicht begreifen, Fragen nicht stellen, weil ihnen gar nicht erst in den Sinn kommt, dass sie sich an einem Muster orientieren, das bei anderen vielleicht ganz anders aussehen könnte. Es ist für mich zur Metapher geworden, weshalb es so viele Missverständnisse gibt zwischen Menschen, die unterschiedliche Lebenswelten haben. Und es hat mich gelehrt, dass es bei Diskussionen um Diskriminierung nicht um Schuldzuweisung gehen sollte. Wie soll jemand ein Problem begreifen können, von dessen Existenz er zwar weiß, so wie ich wusste, dass in England Linksverkehr ist, es aber in seinen facettenreichen Ausmaßen gar nicht erfassen kann?

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Nicht alle Folgen des Linksverkehr sind so offensichtlich, wie die Seite des Lenkers im Auto.

Wie soll sich ein weißer Mann, der sein ganzes Leben über von starken männlichen Heldenfiguren in Bilderbüchern, Hörspielen, Comics und Kinofilmen umgeben war, vorstellen können, wie unerträglich die Abwesenheit von Schwarzen Mädchen in der Kinderbuchliteratur ist? Es ist für ihn so normal, dass er nicht mal auf die Idee kommt, dass anderen da etwas fehlt. Gewiss: Wenn er aufmerksam zuhört, wird er verstehen können, weshalb man besser rechts-links-rechts schauen sollte, um nicht überfahren zu werden. Doch er wird nicht an die Rolltreppen denken können, nicht fragen, was es mit einem Menschen macht, der in Literatur, Fernsehen und nicht mal der Werbung repräsentiert ist. Es ist zu weit entfernt aus seiner Lebenswelt.

Unsere einzige Hoffnung besteht darin, einander keine Vorwürfe zu machen für die blinden Flecken, die wir durch unsere Privilegien unweigerlich erhalten. Dann können wir uns der Verantwortung stellen, mit dem Umstand angemessen umzugehen, dass jeder Mensch einen begrenzten Horizont hat. Und dann können wir anfangen von dem weißen Jungen zu erwarten, dass er es wenigstens versucht, sich bewusst zu machen, wie viel dem Schwarzen Mädchen verwehrt blieb, über dessen Wert er sonst nie nachgedacht hätte.
* Ich habe seither genauer darauf geachtet und bemerkt, dass auch viele Rolltreppen von diesem System abweichen. Dann aber immer mit einem Grund.

 

Bildlizenzen:

DriveLeft Schild: CC by sa 3.0 Thjurexoell
British Car: CC by nc sa 2.0 Elliott Brown
Rolltreppen: CC by nc sa 2.0 Ralf Appelt


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