Neue Trendsportart: Extreme Technikpaternalisting

Ich bin gerade so schön am Hausarbeit schreiben und stoße auf eine kleine Anekdote, die ich unmöglich in einer wissenschaftlichen Arbeit unterbringen kann. Da ich aber ohnehin nach einer Gelegenheit suche, zu prokrastinieren und das gerade unbedingt loswerden möchte, muss mein Blog jetzt dran glauben.

Also: Ich stand neulich (eigentlich ist es schon einige Zeit her, was man an den gleichbeschriebenen Wetterzuständen erkennt), nämlich während der kurzen aber heftigen Hitzeperiode, die uns dieser Sommer beschert hat, in einer total überfüllten Regionalbahn auf dem Weg nach Hause.

(Jetzt kann ich mir einen kleinen Seitenhieb gegen die Bahn nicht verkneifen: Das Problem mit den ausgefallenen Klimaanlagen gibt es nämlich in den Regionalzügen ganz besonders doll. Zum Glück kann man dort aber noch bei einigen Bahnen die Fenster etwas öffnen. Was aber bei Überfüllung nicht viel hilft. Durch eine unverifizierte Quelle habe ich mal gehört, dass die Klimaanlagen halt die ganze Zeit versuchen, die angestrebten 19 Grad zu erreichen und sich dabei im Hochsommer halt einfach total überfordern. Aber anstatt den Klimaanlagen dann realistischere 28 Grad als Ziel anzubieten, die bei 40 Grad ja immer noch eine enorme Verbesserung darstellen würden, müssen die Dinger halt so lange böllern um die utopistischen 19 Grad zu erreichen, bis sie die Grätsche machen und man sich über unerträgliche 50 Grad und mehr freuen darf.)

Die Regionalbahn, in der ich mir einen letzten Platz an der Tür ergattert hatte war jedenfalls nicht klimatisiert, dafür aber brechend voll und fuhr durch 40 Grad Außentemperatur. Das heißt, eigentlich stand sie im Bahnhof rum und fuhr überhaupt nicht. Aus welchem Grund auch immer.
Bevor diese Züge losfahren fangen ja die Türen immer an ohrenbetäubend zu Piepen und dann gehen sie zu, und lassen sich auch nicht von einem Menschen aufhalten, der auf den Tür-öffnen-Knopf drückt.
Diese Information ist für meine Anekdote entscheidend und, wie ich lernen sollte, nicht so offensichtlich, wie man vielleicht annehmen könnte.
Wir standen also eingepfercht in der unbewegten beweglichen Sauna und tauschten unsere Schweißperlen gegeneinander aus, während wir warteten, dass das Ding sich endlich in Bewegung setzen würde.
Mein Platz an der Tür verlieh mir das Privileg, die Tür öffnen zu können. Ich drückte den Knopf, die Tür öffnete sich und ein Zug angenehmer und frischer Luft durchströmte den Wagen. Jedenfalls so lange, bis die Tür nach dem programmierten Zeitintervall unter der üblichen Geräuschkulisse automatisch wieder zu ging. Der Zug blieb stehen. Ich öffnete sie erneut und versorgte mich und die anderen Fahrgäste mit erträglicher Luft. Schließlich erkannte ich die Verantwortung, die mir mein privilegierter Platz an der Tür auferlegte, die ich eben auch meinen Mitmenschen gegenüber trug. Ich beschloss, bis zum endgültigen Türschließen vor der Abfahrt (wogegen ich mit Knopf-drücken ja ohnehin nichts hätte ausrichten können) die Frischluftversorgung sicherzustellen. Immer wenn die Tür Anstand machte, sich wieder zu schließen, hinderte ich sie daran mit einem erneuten Knopfdruck. Was ihr außerdem auch das nervige Gepiepe abschnitt.
Man könnte ja meinen, meine Mitmenschen hätten mein Bemühen gewürdigt und sich an der frischen Luft erfreut. Oder wenigstens einfach keine Notiz davon genommen. Doch die dachten gar nicht daran.
Neinein die blufften mich an, ich solle gefälligst damit aufhören, weil sonst der Zug nicht losfahre. (Das ist doch überall so: Durch einfaches Tür-auf-Knopf-drücken lässt sich jede S-, R- und U-Bahn aufhalten. ironieaus) Ich versuchte zu erläutern, dass ich darauf gar keinen Einfluss habe und dass sich die Türen von mir gar nicht offen halten lassen würden, wenn der Zug vor habe, sich in Bewegung zu setzen. Doch es entwickelte sich ein regelrechter Mob, der mich anwies, die Türen geschlossen zu halten. Schließlich fügte ich mich der Weisheit der Masse (not) und roch zu, wie der Sauerstoffgehalt im Wagen in ähnlich rasantem Temo sank, wie die Temeratur stieg.

Wir wollen keine lebensgerechten Raumbedingungen! Wir wollen alle dumm rum stehen, und uns sicher sein, dass alles was passiert schon irgendeinen Sinn ergibt. Und wenn die Zugtüren nach einer Weile zu gehen, dann wird es dafür ja einen guten Grund geben. Warum sollten wir darüber nachdenken? Ist doch nicht so, dass Sauerstoff so wichtig wäre. Außerdem kann man dann so schön nach Hause gehen und sich drüber beschweren, dass die dumme überhitzte Bahn eine Viertelstunde lang nicht weiter gefahren ist und alles ganz schlimm war.
So ist das mit dem Technikpaternalismus. Man denkt nicht mehr darüber nach, was die Technik eigentlich bewirkt. Man sucht nur noch nach Wegen, wie man ihr brav folgen kann. Und das wurde in dem Fall dann auch noch mit vorauseilendem Gehorsam gepaart. Man achtet nicht mehr darauf, wie die Technik arbeitet und was sie erlaubt und was sie bezweckt.
Nein: Man versucht nur, ihr möglichst alles recht zu machen und setzt sich Situationen aus, die gar nicht nötig wären, um die Technik nicht zu ärgern.
In Gedanken schickte ich einen Gruß an alle Hacker, und konnte nicht fassen, dass die Mentalität, einen Zustand der mir von Technik aufoktruiert wird einfach zu ändern, auch in dieser banalen Situation notwendig war.
War es tatsächlich meine Hacker-Mentalität, die dazu führte, dass meine selbstverständliche Idee zur Frischluftversorgung von den anderen nicht verstanden wurde? Jedenfalls wünschte ich mich in dem Moment zurück zu meinen Nerd-Freunden und stellte fest, dass diese Situation wohl gänzlich anders verlaufen wäre, wenn sich im Zug nur Vertreter dieser Gattung befunden hätten. (Wahrscheinlich hätten wir die 15 Minuten genutzt, um ein perfektes System zu entwickeln, die Türen so effizient wie möglich offen zu halten.)
Gruselig die Vorstellung, was Technikpaternalismus in der Gesellschaft noch alles anrichten kann. Immerhin haben die Menschen ihre Bereitschaft bewiesen, sogar auf Atemluft zu verzichten, um es der Technik recht machen zu können. Das ist schon ziemlich grenzenloser Gehorsam. Öhm… wie war das doch gleich mit den Gefahren grenzenlosen Gehorsams? (Ich verzichte an dieser Stelle auf eine makabere Verlinkung.)

Übrigens war ich gerade auf dem Heimweg von der Uni. Die mitfahrenden Mitmenschen waren also allesamt das, was man im Volksmund als Bildungsbürgertum bezeichnet.
Bildung und Technikhörigeit widersprechen einander also nicht wirklich.

Hoch lebe das Goldene Kalb der technisierten Welt.
Und nicht vergessen: Du sollst dir kein Urteil bilden über deinen Mammon!


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Kommentare

Eine Antwort zu „Neue Trendsportart: Extreme Technikpaternalisting“

  1. Avatar von Paula

    Haha, voll getroffen! Dasselbe habe ich im Sommer auch mehrmals durchmachen müssen, weil mir keiner glauben wollte, dass ich nur Einfluss aufs Überleben aber nicht auf die Zugabfahrt hatte. Technik wird die Menschheit irgendwann noch mal umbringen. ;)